Irrwege im Wald

Die meisten Menschen hätten sich über das wunderbare Sommerwetter wohl gefreut, aber der Bursche, der da einsam durch den Wald von Dawun stapfte, schien ganz und gar nicht gut gelaunt zu sein. Er stierte müde unter dreckigen Haarsträhnen herunter auf den Boden, über den er hinwegstolperte, seine Kleidung war etwas zu klein und außerdem noch schmutzig und voller Risse. Sein linker Stiefel hatte ein Loch in der Sohle, seinen Umhang hatte er vor ein paar Tagen auf der Flucht vor einer wütenden Bache verloren, deren Frischlinge ihm ziemlich lecker vorgekommen waren. Sein Messer wurde langsam stumpf, ihm ging die Schnur für Fallen aus und außerdem war seine Zunderbox letzte Nacht feucht geworden im Tau zwischen den Bäumen.

Sie waren sehr hoch und alt hier, mit dichtem Unterholz dazwischen. Berhailk verfluchte sich stumm für seine dumme Idee, dem kleinen Trampelpfad in die Tiefen des Urwaldes zu folgen. Auf dem Waldweg hätte er bleiben sollen, breit genug für Karren, anstatt diesem menschlichen Wildwechsel mit all den Brombeerranken quer drüber entlangzustolpern! Wahrscheinlich winkte als Lohn für seinen Weg nur eine zerfallene Jagdhütte, die seit Jahren niemand mehr aufgesucht hatte. Aber es war zu spät zum Umkehren, und ein morsches Dach über dem Kopf würde besser sein als gar keines.

Zwischen den Bäumen breiteten sich bereits tiefe Schatten aus, doch plötzlich schimmerte zwischen den dunklen Flächen das satte grün einer Wiese hervor, von einem Bach durchschnitten; und der Bach hatte einen Steg, hinter dem der Trampelpfad zu einer einfachen Holzhütteführte. Ein morsches Gebilde, ganz so, wie es sich Berhailk gedacht hatte. Nichts als ein Haufen angefaulter Bretter.

Doch vom Dach dieses Müllberges stieg eine dünne Rauchfahne auf.

Berhailk seufzte erleichtert und rannte die letzten Schritte bis zur Tür, dann klopfte er hoffnungsvoll, und in der Tat wurde sie kurz darauf von einem alten Mann geöffnet: weißgraues Haar, im Nacken zusammengebunden; skeptische graue Augen in dem von Alter und Erfahrung gegerbten Gesicht; etwas krumm der Körper, doch wohlgenährt.

„Narante zum Gruß“, sagte der Junge etwas scheu, „mein Name ist Berhailk. Ich habe mich im Wald verirrt, dürfte ich die Nacht bei Euch verbringen?“

Der Mann musterte ihn kritisch. „Was macht ein Bursche wie du alleine im Wald? Bist wohl deinem Meister weggerannt, was? Für weggelaufene Lehrlinge habe ich keinen Platz!“

Mit diesen Worten schob er bereits die Tür wieder zu, doch Berhailk stemmte sich dagegen. „Ich bin kein Ausreißer“, keuchte er. „Nur eine Waise, die nicht weiß, wohin. Bitte lasst mich nicht noch eine Nacht draußen im Wald verbringen!“

Der Mann zog die Tür ruckartig auf, so dass Berhailk hilflos ins Haus stolperte.

„Setz dich!“, herrschte ihn die noch sehr kraftvolle Stimme des gebrechlichen Körpers an. Gehorsam verzog sich Berhailk auf einen der zwei Schemel am grob gezimmerten Tisch. Der Mann setzte sich ihm gegenüber und runzelte die Stirn. „Eine Waise also, was? Dann würde mir ja der Anstand gebieten, dich hier zu beherbergen und dir morgen früh den Weg zu weisen. Wo willst du denn hin?“

Berhailk schaute ihn scheu unter einem Vorhang aus dreckigen braunen Haaren an. „Nun, ins nächste Dorf, oder eine Stadt, wenn es hier welche gibt.“

Der Mann lachte auf. „Dorf! Stadt! Was glaubst du denn, Junge, wo du bist? Hier gibt es weit und breit nichts! Es sei denn, du willst die Berge hinauf“, er nickte zum Fenster, wo im Abendrot die Gipfel des Alten Ringes schimmerten, „dort findest du sicher Shedali. Und wenn du die Berge überquerst und weiter nach Osten gehst, immer weiter, kommst du irgendwann nach Godvyon zu den Gaelen, aber die mögen keine Fremden.“

Berhailk spürte, wie die Hoffnung ihn verließ. Er sackte in sich zusammen. „Dann bin ich also doch irgendwo falsch gegangen! Vach und Il meinten, hier müsse irgendwo ein Dorf sein.“

„Freunde von dir?“

„Ja. Außer mir die einzigen aus meinem Dorf. Wir sind überfallen worden. Von Fremden.“

Der Mann neigte interessiert den Kopf. „Die kamen aber nicht zufällig aus dem Westen?“

„Doch!“ Berhailk war plötzlich wieder wach.. „Woher wisst Ihr das?“

Der Mann zuckte die Schultern. „Ich weiß so einiges“, gab er vage und grinste. „Du musst hungrig sein“, meinte er dann, stand auf und nahm eine Holzschüssel aus dem Schrank, um sie mit dampfender Grütze vom Herd zu füllen. Gierig machte sich Berhailk sofort darüber her, während ihm sein Gastgeber zusah.

„Draußen ist ein guter Brunnen“, sagte er, als Berhailk fertig war, „dort kannst du dich waschen. Und ich finde sicher noch ein paar Kleider von meinem alten Lehrling für dich - das Zeug da kannst du doch unmöglich länger anziehen, da bist du doch schon längst rausgewachsen! Wann war denn der Überfall auf dein Dorf?“

Berhailk runzelte die Stirn und dachte. „Letzten Herbst war es, aber wann genau weiß ich nicht mehr.“

„Lange genug für einen Burschen in deinem Alter. Jetzt geh und wasch dich.“

Berhailk gehorchte und war froh, aus den viel zu engen und unbequemen Klamotten herauszukommen. Bald darauf kam der Alte aus der Hütte und legte ihm abgetragene, aber saubere und vor allem passende Kleidung hin, Hose und Hemd und sogar ein paar Stiefel. „Da. Keine Königskleidung, aber mehr als genug für ein bettelndes Waisenkind.“

Ein freundliches Zwinkern milderte die harte Wahrheit in den Worten weit genug ab, dass Berhailk sich schweigend abtrocknen und ankleiden konnte, anstatt dem Alten gehörig die Meinung zu sagen. Schließlich war er einmal der älteste Sohn des Dorfhäuptlings gewesen!

„Jetzt gibt es aber das Dorf nicht mehr“, sagte der Alte spitzbübisch und lachte über Berhailks erschrockenes Gesicht. „Und jetzt rein mit dir.“

Sie saßen ein Weilchen drinnen am Feuer, das fröhlich aus dem gut gelagerten Holz flackerte. Der Alte fragte Berhailk über sein Dorf, den Überfall und die Wanderungen mit Avach und Ildin aus, und Berhailk erzählte ihm alles: wie seine beiden Begleiter gestorben waren und wie er seitdem alleine durch den großen Wald irrte.

„Ich wollte eigentlich nach Dan, aber da bin ich irgendwie in die völlig falsche Richtung geraten und dann halt hier gelandet. Danke für Eure Gastfreundschaft!“

Der Alte winkte ab. „Der einzige Überlebende eines ganzen Dorfes“, brummelte er dann nachdenklich, „muss ja mehr an dir dransein, als man auf ersten Blick sehen kann, was, Bursche?“

Berhailk wusste nichts zu antworten und blieb stumm.

„Wenn ich dir den Weg nach Dan zeige – ein sehr weiter Weg, da musst du nämlich ein schönes Stück nach Westen –, was machst du, wenn du da bist?“

„Ich weiß nicht. Arbeit suchen, denke ich; mit etwas Glück einen Lehrmeister für irgendwas. Ich könnte auch nach Norden, ins ittarische Kernland, vielleicht -“

„Weder Ittarer noch Daner sind für ihre Gastfreundschaft bekannt.“

„Ihr seid aber ein Ittarer wie ich.“

Der Alte grinste. „Stimmt. Aber es besteht ein Unterschied darin, ob man ein streunendes Waisenkind für eine Nacht durchfüttert oder es als Lehrjungen nimmt, wenn im Dorf Dutzende arbeitswilliger Burschen herumlaufen, die dann auch noch kreuz und quer mit einem verwandt sind. Wenn du ein ehrbares Leben führen willst, geh doch besser in den Alten Ring zu den Shedali: Die sind freundlicher zu Pechvögeln, habe ich mir sagen lassen. Das wird wohl daran liegen, dass sie selbst Pechvögel sind, die langsam von den Gaelen und den Südteufeln ausgerottet werden.“

„Shedali? Da kann ich doch auch gleich zu Elfen oder anderem Zaubervolk gehen“, murrte Berhailk. „Ich hab einmal Shedali getroffen, die haben mit meinem Vater gesprochen. Arrogantes Pack! Die denken, nur weil sie nicht alt werden und sterben, sind sie was besseres.“

„Wie alt, denkst du, bin ich?“

Berhailk musterte den Alten und rümpfte ratlos die Nase. „Sechzig sicherlich, wahrscheinlich ein gutes Stück älter. Älter als alle Menschen, die ich kenne.“

„In der Tat. Ich bin fünfundneunzig, um genau zu sein.“

Berhailk pfiff scharf durch die Zähne. „Fast hundert!“

„Sieh an, du kannst sogar zählen, Bursche.“ Der Alte lachte. „Weißt du, wie ich so alt geblieben bin?“

Berhailk schüttelte stumm den Kopf.

„Weil ich weiß, wie ich mir Tod vom Halse halte, so! Auch Ittarer müssen nicht krepieren wie Hunde, wir können auch zu Mächten kommen, die uns länger leben lassen als das gewöhnliche Pack.“

Berhailk starrte in die wachen grauen Augen. „Ihr seid ein Hexer“, murmelte er schließlich erschrocken.

Der Alte kicherte. „Nein, wirklich, wie kommst du denn darauf! Ein alter Mann, der ganz alleine gottverlassen im Wald in einer kleinen Hütte lebt ...“

Berhailk kam sich plötzlich ziemlich dumm vor.

„Das wird daran liegen, dass du es bist“, meinte der Hexer und lachte. „Aber lass es gut sein. Du bist ein anständiger Bursche, soviel steht fest, und du hast mich nicht angelogen: Ich glaube dir, dass du eine Waise bist. Und was ich dir gesagt habe, stimmt auch: In danischen oder ittarischen Dörfern findest du keine Lehrstelle. Aber du kannst bei mir bleiben, wenn du magst.“

„Was, ich soll Hexerei lernen?“

Der Alte lächelte. „Hexerei, Schneiderei, Schmiedekunst – was kümmert es dich, solange du Kleider am Hals und Grütze im Magen hast? Das Leben hier ist etwas eintönig für mich, da wäre ein Bursche wie du, dem ich was beibringen kann, eine nette Abwechslung.“

Berhailk starrte eine ganze Weile ins Feuer, während in seinem Kopf die Gedanken Purzelbäume schlugen. „Also gut“, sagte er schließlich und schaute den Alten an, „warum eigentlich nicht?“

„Ja, warum eigentlich nicht?“ Der Alte kicherte und stand auf. „Knie dich auf den Boden, da vorm Feuer.“

Etwas mulmig war Berhailk schon zumute, als er gehorchte, aber er zauderte nicht lange. Der Hexer nahm einen glimmenden Zweig aus dem Feuer, blies ihn aus und stellte sich vor Berhailk. „Sprich mir nach, Bursche! Meinst du, das kannst du?“

Berhailk starrte ihn wütend an und nickte.

„Hiermit nehme ich, Berhailk, den ehrenwerten Hexer Kaniark als meinen Lehrmeister an. Ich werde ihm ein treuer Schüler und Diener sein bis zu dem Tag, da er mich aus meiner Lehre entlässt als freien Gesellen der Hexerei.“

Nachdem Berhailk die letzten Worte nachgesprochen hatte, zeichnete Kaniark ihm mit dem angekohlten Zweig etwas auf die Stirn und warf das Holzstück dann zurück ins Feuer. Dann sprach er die Antwort: „Hiermit nehme ich, Kaniark von Helba, den Waisenjungen Behailk als meinen Lehrling an. Ich werde ihm ein gerechter Meister sein bis zu dem Tag, da er würdig ist, aus der Lehre entlassen zu werden.“

Kaniark schaute auf den rußverschmierten Jungen hinab. „So, Berhailk, jetzt bist du mein Lehrling mit allen Rechten und Pflichten, wie sie Lehrlinge gleich welcher Zunft haben. Fürs erste aber sollst du dich von deiner langen Reise erholen.“

Dann gähnte Kaniark und reckte sich. „Zeit fürs Bett. Du wirst wohl zunächst mit mir zusammen in meinem schlafen müssen, bis wir dir ein eigenes gebaut haben.“

„Mir soll’s recht sein“, gab Berhailk zurück, „hauptsache nicht noch einmal feuchten Waldboden, und das ohne Decke und Umhang!“

Und kaum hatte er sein Kopf auf das Kissen gelegt und sich unter der Decke behaglich eingekuschelt, da war er auch schon bereits fest eingeschlafen.